Nichts für schwache Nerven! Mit zitternden Finger hält sich ein YouTuber am Geländer fest und späht in den schier endlosen Abgrund. Leicht blass um die Nase erklärt er, in welch schlechtem Zustand die Metallgitter sind, auf denen er gerade steht.

Besagter YouTuber ist im Okatse Canyon in Georgien und stellt sich in dem Video gerade als besonders mutig dar, weil er sich über diese schwebenden Wanderpfade mit durchsichtigem Boden wagt. Ich mache mir eine Notiz. Das will ich auch mal ausprobieren.

Der schwebende Wanderweg im Okatse Canyon

Szenenwechsel: Vier Wochen später, in einem anderen Land. Bei fast 35 Grad erreichen wir über löchrige Straßen den Parkplatz und werden, kaum dass wir ausgestiegen sind, von Männern mit Esel, Pferden und Autoschlüsseln bestürmt, die uns hinauffahren wollen zum Okatse Canyon. Wir zeigen auf unsere Füße, dann in Richtung des Wanderpfades und werden schließlich in Ruhe gelassen.

Der Weg führt zuerst einmal ins Besucherzentrum, denn dort darf bezahlt werden. 15 GEL, also knapp 5 Euro, pro Person. Ausgestellt ist auch ein Modell des Canyons, der sich etwa 50 Kilometer von Kutaisi entfernt befindet und rund 100 Meter tief ist. Das ist aber nicht der Grund, warum hier täglich zahlreiche Touristen anreisen, sondern ein 700 Meter langer Wanderweg aus Metallgittern, der buchstäblich über dem Abgrund hängt. Wen das noch nicht nervös macht, der Boden ist wegen der Gitter auch durchsichtig. An dem Modell zeigt sich der Verlauf des Weges, der abschließend in einer großen Aussichtsplattform endet.

Danach heißt es erst einmal Laufen – immer bergab und ich freue mich jetzt schon, dass ich das später in der Mittagshitze wieder bergauf zurückgehen darf. Knapp eine halbe Stunde sind wir durch den Wald und über Wiesen unterwegs, bis wir den Eingang zum Canyon erreichen, wo zwei Mitarbeiterinnen gelangweilt in der Sonne dösen.

Instatipp: Um die Ausmaße und vor allem um die Höhe der Aussichtsplattform richtig in Szene zu setzen, ist es am besten, ein Foto aus der Ferne zu machen. Einer geht also Voraus auf die Aussichtsplattform und der andere macht eine Aufnahme vom Weg aus. So zeigt sich am eindrucksvollsten, dass die Plattform direkt über dem Nichts hängt.

Plötzlich gibt es einen Tumult, denn eine Gruppe Deutscher will noch einmal durch das Drehkreuz. In sehr mäßigem Englisch versucht der Mann zu erklären, dass seine Frau noch unten sei und abgeholt werden müsse, weil sie sich nicht über die durchsichtigen schwebenden Brücke getraut habe. Die Mitarbeiterin zeigt wenig Verständnis und noch weniger Lust, ihm zu helfen. Ich biete ihm also an, seine Frau zu informieren, dass er oben auf sie warte.

Wanderung über Treppen und Gitter

Länge:700 m
Dauer:30 min.
Eintritt:ca. 5 Euro
Schwierigkeit:Leicht
Beste Jahreszeit:Mai bis Okt

Über Gitterstufen geht es nach unten, zu beiden Seiten gibt es ein stabiles Geländer zum Festhalten. Meinem Adrenalinlevel ist aktuell noch eher zum Gähnen zumute, aber das wird sich sicher gleich ändern. Schließlich sind YouTube und Instagram voll von den waghalsigsten Aufnahmen hier.

Zuerst einmal schicke ich die einsame deutsche Touristin, die in dem Wartehäuschen am Anfang der Brücke sitzt, wie bestellt und nicht abgeholt, zurück zu ihrem Mann und greife mir dann Kamera und Handy für die jetzt folgende adrenalinreiche Überquerung.

Und es tut sich gar nichts. Mein Adrenalinpegel macht müde ein Auge auf, guckt sich kurz die Lage an und verabschiedet sich dann wieder. Hier gibt es rein gar nichts, wovor man Angst haben müsste…. außer vielleicht für Menschen, die wirklich unter extremer Höhenangst leiden. Bei mir ist das aber nicht der Fall. Ja, der Boden ist durchsichtig, weil Gitter, aber es bewegt sich nichts, nichts schwingt und den Abgrund kann man auch nicht sehen, weil es unter der Brücke grün nach oben wuchert.

Wir springen sogar ein bisschen, um der Situation ein bisschen Action zu verleihen, aber auch das hilft wenig.

Top für Instagrammer, aber nicht für Adrenalinsuchende

Mit uns sind nur wenige Menschen auf den schwebenden Wanderwegen und auf der Aussichtsplattform im Okatse Canyon, aber man muss kein Genie sein, um zu erkennen, warum sie hier sind. Um endlich in den Abgrund schauen zu können, muss ich erst einmal unter mehreren Selfie-Sticks hindurchtauchen und Slalom um die Insta-Boyfriends machen, die die typische Rückenansicht fotografieren.

Das, was hier aber eigentlich versprochen wurde, fällt nur sehr SEHR mässig aus. Möglicherweise bekommt hier jemand weiche Knie, der sich sonst wirklich nur im Flachland aufhält, aber jemanden, der schon einmal einen Berg oder einen Canyon gesehen hat, wird das Erlebnis kaum aus den Socken reissen. Hier scheint leider wirklich das Marketing im Vordergrund zu stehen, mit aller Macht einen Insta-Hotspot schaffen zu wollen. Und da bin ich jetzt eher nicht die Zielgruppe.

Lohnt sich ein Besuch im Okatse Canyon?

Wer aber gerne Fotos macht, der findet im Okatse Canyon sicher genug spektakuläre Motive. An alle anderen: Keine Ahnung, ob ich euch die Fahrt zum Canyon empfehlen soll, denn die Straße dorthin ist auch nicht gerade im besten Zustand, so dass schon ein ganzer Tag eingeplant werden muss.

Die Tour durch den Canyon über die schwebenden Brücken ist in maximal einer halben Stunde erledigt und war auch sicher nicht so aufregend, dass ich in der Folgenacht nicht schlafen konnte. Wenn ihr aber so etwas noch nie gemacht habt und vielleicht einfach versuchen wollt, über euch selbst hinauszuwachsen und eure Grenzen zu testen, dann fahrt hin und probiert es aus.

In unmittelbarer Nähe liegt übrigens auch der Kinchkha-Wasserfall, den ihr bei einem Besuch im Okatse Canyon noch mitnehmen könnt.

Lage

Praktische Links

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